Neulich war ich in München. Und habe unterwegs ein wenig die Menschen um mich herum beobachtet. Schon im Zug fiel mir auf, dass viele über nur ihre Handys gebeugt waren und kaum mitbekamen, was um sie herum vorging. Im Hotel Gäste, die jede Speise und jeden Teller vom Frühstücksbuffet fotografieren (und wahrscheinlich online teilen) mussten. Unterwegs habe ich zunächst versucht, möglichst niemanden ins Bild zu laufen, denn die Handy- und Selfie-Fotografen waren überall – mit Blick aufs Display.
Am zweiten Tag habe ich es immer mehr aufgegeben, mich rücksichtsvoll zu verhalten und zu versuchen, niemandem sein Foto zu ruinieren. Aber erst am dritten Tag wurde mir klar, wie absurd die Situation eigentlich ist. Und gleichzeitig symptomatisch: Gerade Urlauber nehmen die Welt oft nur noch durch das Display ihrer Kamera wahr. Und dabei versuchen sie, den Wunschausschnitt zu finden, der den perfekten Moment repräsentiert.
Aber es geht gar nicht darum, diesen Moment zu erleben, sondern nur um die Möglichkeit, anderen mitzuteilen, man habe diesen tollen Moment erlebt: „HEY, SEHT HER: ICH LEBE. ICH BIN IN MÜNCHEN. ES IST SO TOLL.“ In Großbuchstaben, mit viel weniger Worten (und manchmal ganz ohne, es muss ja schnell gehen) oder mit Emoticons, die ich hier kaum verwenden kann. Die Botschaft ist immer die gleiche. Die Likes für die geteilten Fotos sind wichtiger als der Urlaub selbst. Ja, das richtige „Material“ zum Teilen zu finden ist harte Arbeit.
Nun soll jeder so leben, wie er möchte. Aber ich habe mich gefragt, ob das überhaupt noch „leben“ ist. Oder ist es das Inszenieren eines Lifestyles? Mir fiel eine Begebenheit ein, die schon zwei, drei Jahre zurückliegt: Wir hatten eine Wanderung in einem Nationalpark gemacht, wenn ich mich richtig erinnere, dann waren wir zwei Stunden unterwegs gewesen zu einem abgelegenen, idyllischen Plätzchen. Wirklich wunderschön gelegen. Nach ein paar Minuten oder auch einer halben Stunde kam ein anderes Grüppchen, machte ein paar Fotos, einer aus der Gruppe jammerte lautstark: „Mist, nicht mal Empfang in der Einöde.“ Und nach ein paar Minuten waren sie wieder verschwunden und wir hatten die Szenerie wieder für uns.
In München hat man die Szenerie nie „für sich“: Ein ständiger Strom von Touristen wälzt sich durch die Stadt, von denen jeder die gleichen Fotos macht und sie möglichst sofort mit seinen Freunden teilt. Und niemand scheint Zeit oder Interesse zu haben, den Moment selbst zu genießen und im JETZT zu leben.
Aber vielleicht sind diese Horden sogar noch gut dran? Denn auf der anderen Seite sitzen die Empfänger der Fotos, vielleicht im Büro, vielleicht zu Hause, vielleicht gar im Kino. Und anstatt ihr Leben zu leben, blicken sie auch ständig auf das Display ihres Handys, um nur nichts zu verpassen, was in der Welt da draußen vorgeht. Was „die anderen“ Tolles erleben. Und schnell genug zu sein mit Likes und Kommentaren, um sich nicht ausgeschlossen zu fühlen.
In München habe ich mich in ein Café gesetzt, die Szene beobachtet und den Moment ausgekostet. Ich habe meinen Kaffee und meinen Kuchen genossen, sie nicht aufgenommen, nicht mit anderen geteilt. Ich fühlte mich im Jetzt – kein Stress, keine Hektik, keine Verpflichtung, mich irgendwie zu beweisen oder mitzuteilen. Und ich habe mich gefragt, ob mancher nicht nur eine Dinge- und Task-Diät gebrauchen könnte, sondern auch eine Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungs-Diät.
Shit … jetzt habe ich mein Reiseerlebnis auch geteilt 😉