Ein seltenes Ereignis gab es vergangene Woche: Dinge-Diät bei meiner Mutter. Also, na ja, keine richtige, große Dinge-Diät, aber zumindest ein kleiner Bereich, der meine Mutter belastete und bei dem sie mich um Rat gefragt hat: der wachsende Bücherstapel.
Zugegeben: Da ich mittlerweile Bücher möglichst in Form von E-Books lese, gibt es bei mir schon lange keine großen, sichtbaren Bücherstapel mehr. Was nicht heißt, dass ich nicht auch das eine oder andere Buch horte, das ich „irgendwann“ gerne lesen möchte. Aber bei meiner Mutter ist der Stapel an ungelesenen und angefangenen, aber nicht zu Ende gelesenen Büchern in den letzten Jahren immer größer geworden. Und irgendwie fühlt sie dadurch eine wachsende Verpflichtung und einen immer stärkeren Druck. Das führte dazu, dass sie sogar Bücher unters Bett geschoben hat, um sie nicht sehen zu müssen. Wer meine Mutter kennt, der kann daran sehen, dass es sie wirklich belastete, denn der Platz unter den Betten ist ihr heilig.
Ich hatte ihr schon mehrfach angeboten, ihr mal einen E-Reader zu schenken, aber das will sie nicht. Als sie mich jetzt um Rat fragte, war ich daher erst mal überrascht. Aber ziemlich schnell stellte sich im Gespräch das eigentliche Problem heraus:
Meine Mutter kann keine Bücher weggeben, die sie nicht „ausgelesen“ hat!
Für mich war das erst mal eigenartig, aber im Gespräch mit Petra und Karla habe ich erfahren, dass es vielen so geht. Für meine Mutter sind Bücher etwas besonderes, „Kulturgut“ sozusagen. Sie sieht die Mühe, die sich Autor und Verlag damit gegeben haben. Und wenn sie jetzt ein Buch un(aus)gelesen weggeben würde, käme ihr das vor wie jemand, der aus dem Zimmer geht, während ein anderer eine Geschichte erzählt. Das macht man nicht.
Ich bin da deutlich pragmatischer: Gefällt mir ein Buch nicht, dann lese ich einfach nicht weiter. Meine Zeit ist mir dazu zu schade. Und der Autor hat auch nichts davon, wenn ich mich irgendwie durch die Geschichte quäle. Mich erinnert das eher an Schullektüre – da mussten wir Sachen lesen, weil sie später in der Prüfung drankamen.
Es hat ein wenig Überzeugungskraft gekostet, aber ich habe meiner Mutter klar gemacht, dass sie kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn sie ein Buch nicht zu Ende liest, weil es ihr nicht zusagt. Sie hat keine Verpflichtung – nicht gegenüber dem Autor, nicht gegenüber dem Verlag, nicht gegenüber ihrem Buchhändler, der ihr das Buch empfohlen hat. Geschmäcker sind verschieden und Lektüre ist ein Zeitvertreib, der Freude machen soll, nicht Qualen bereiten.
Mit meiner Mutter bin ich dann die Bücher in ihren Lesestapeln durchgegangen und sie hat zumindest 11 Bücher von über 50 „loslassen“ können. Schweren Herzens zwar, aber immerhin ein Anfang. Einen weiteren Stapel hat sie zusammengestellt, bei dem sie die Bücher „auf die Probe“ stellen will. Wir haben vereinbart, dass sie fünf bis zehn Seiten (oder alternativ eine Viertelstunde) darin liest und sich dann für oder gegen die Lektüre entscheidet. Eben habe ich sie nochmal angerufen und sie hat berichtet, dass sie so schon vier Bücher „abgearbeitet“ und davon drei aussortiert hat. Und sie hat wiederholt betont, dass sie eine deutliche Verbesserung sieht: In den letzten Monaten und gerade nach ihrem Geburtstag und nach Weihnachten sind die Stapel immer nur weiter angewachsen und jedes Mal, wenn sie das sah, nahm auch ihr schlechtes Gewissen zu. Jetzt sind die Stapel zum ersten Mal deutlich kleiner geworden (wenn auch noch lange nicht klein genug) und sie spürt eine echte Erleichterung.
Für das nächste Mal habe ich mir vorgenommen, ihr noch etwas Weiteres mit auf den Weg zu geben: Ich möchte ihr klar machen, dass es nicht bedeutet, dass sie nie wieder die Gelegenheit dazu hat, ein Buch zu lesen, wenn sie sich jetzt gegen es entscheidet. Im Gegenteil: Wenn sie ein Buch jetzt nicht lesen möchte, kann sie es problemlos weggeben – sollte sie es später doch noch lesen wollen, helfe ich ihr gerne dabei, es neu oder gebraucht aufzutreiben. Das ist nämlich eine weitere Sorge von ihr: Dass sie ja so lange die Gelegenheit hat, ein Buch zu lesen, solange es sich in ihrem Besitz befindet. Aber Bücher aufzutreiben ist im Internet-Zeitalter nun für die meisten Titel wirklich nicht besonders schwer.
Fazit: Wer von seinen Bücherstapeln erdrückt wird, sollte lernen, loszulassen. Das ist ein Prozess und geht nicht von heute auf morgen, aber jedes Buch, von dem man sich ungelesen oder halb gelesen trennen kann, kann befreiend sein. Und mit dem Kauf bzw. dem Besitz geht man keine Verpflichtung ein, ein Buch auch lesen zu müssen!