Vor ein paar Tagen bekam ich eine Nachricht von Annette:
Liebe Inge, ich habe deine Bücher und das Blog gelesen und würde auch gerne so weit kommen wie ihr. Aber ich finde keinen Anfang. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich komme nie zu einem Ende. Irgendwie ist der Berg zu groß, der vor mir liegt. Ich habe es vorher auch schon mit anderen Entrümplungsratgebern probiert, aber auch da bin ich nicht weit gekommen. Ich habe sogar mal mit einer Freundin alles mögliche ausgemistet, aber danach habe ich nur nichts mehr gefunden, mir fehlte alles mögliche, das ich im Wahn weggegeben hatte und nach kurzer Zeit war alles beim alten, nur ich noch frustrierter als vorher. Am liebsten hätte ich zwei Listen: „Das solltest du behalten, das kann weg.“ und „Das ist eine sinnvolle Beschäftigung, das kostet dich nur unnötig Zeit (und Geld).“ Ich fürchte, so eine Liste habt ihr auch nicht für mich, oder?
Ähnliche Fragen bekomme ich immer wieder gestellt. Annette ist bei weitem nicht die Einzige, die sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Aber wenn man etwas in einem gewaltigen Kraftakt optimieren will, was über viele Jahre zum Problem geworden ist, dann geht das oft schief. Es ist genau, wie Annette beschreibt: Man sieht den riesigen Berg, der vor einem liegt, und denkt sich, dass man das nie schaffen wird. So ging es mir am Anfang ja auch.
Die Listen, die Annette sich wünscht, kann es aber aus meiner Sicht nicht geben – und sie würde auch nicht glücklich damit. Jeder Mensch ist anders und bei der Dinge-Diät und der Task-Diät geht es ja darum, ein Umfeld zu schaffen und zu gestalten, in dem man sich wirklich wohl fühlt. Also Raum und Zeit so zu gestalten, dass die eigenen Interessen und der eigene Charakter unterstützt werden. Wir sind alle keine Roboter und keine Klone. Also haben wir unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Lebensumstände und unterschiedliche Vorlieben. „Du brauchst nur x Paar Socken“ ist da genauso wenig allgemeingültig wie „Nimm dir Zeit zum Lesen“ oder „Du brauchst wirklich keinen Thermomix“.
Ich habe Annette daher etwas anderes geraten, hier ein Auszug aus meiner Mail an sie:
[…] Übertragen auf die Dinge- und Task-Diät würde ich dir empfehlen: Such dir einen kleinen, überschaubaren Bereich aus, beispielsweise ein Problembereich, der dich schon häufig gestört hat und immer wieder stört und versuche diesen in einer sehr überschaubaren (zeitlich und hinsichtlich des Aufwandes) Aktion zu verbessern. Nur verbessern, nicht perfektionieren!
Das kann so etwas scheinbar Einfaches wie eine einzelne Schublade oder ein einzelner kleiner Funktionsbereich bei den Klamotten (Socken, Schwimmsachen …) sein, aber auch der ständig vollgeräumte Wohnzimmertisch.
Gib ganz klar vor, was du schaffen willst – und zwar nicht, den Bereich in einem Rutsch von „Chaos“ auf „perfekt“ umzumodeln, sondern das eigentliche Problem zu reduzieren bzw. zu eliminieren. Es hilft nämlich gar nichts, wenn du dich bemühst, einmal so richtig klar Schiff zu machen, und dann selbst den Sinn in dem Projekt für dich nicht siehst. Zudem besteht die Gefahr, dass du bei zu großen Projekten entweder die Lust und Ausdauer verlierst, bevor du ein sichtbares Ergebnis erreicht hast, oder dass das Erzielte schon nach wenigen Stunden oder Tagen wieder verloren geht, weil du deine Prozesse und Handlungen nicht so umgestaltet hast, dass die gleichen Probleme nicht wieder auftauchen.
Wenn du dir einen kleinen Bereich und eine begrenzte Zeit vornimmst, dann profitierst du davon, dass du schnell echte Erfolge siehst. Erfolge, die dir auch etwas bedeuten. Deshalb solltest du mit den Bereichen anfangen, die dich schon oft gestört haben, die aber überschaubar sind. Und dann arbeitest du dich Tag für Tag, Woche für Woche durch einen neuen Problembereich – immer dann, wenn du wieder Zeit, Lust und Energie hast. Eines ist noch ganz wichtig: Du musst vermeiden, wieder in das alte Muster zurückzufallen. Und das bedeutet in der Regel, dass du eine Kleinigkeit in deinem Verhalten verändern musst. Meist ist das wirklich nur eine Kleinigkeit, weil das Chaos sich durch Unachtsamkeit anhäuft: Hier lässt man was liegen, dort sagt man unbedacht zu oder leistet man sich etwas, was man eigentlich gar nicht braucht. Erst durch die Wiederholung wird das zum echten Problem. Wenn du also dein Verhalten ein wenig beobachtest und anpasst, dann kannst du deine kleinen Erfolge immer weiter ausbauen und dann erlebst du auch, wie befreiend und wohltuend das wird. Und dann solltest du jeden erzielten Fortschritt auch für dich feiern – nicht erst, wenn du den großen Berg abgebaut hast.
Vielleicht hilft dir die folgende Methode: Beantworte die folgenden Fragen glasklar und in möglichst wenigen Worten:
1. Welches überschaubare Problem willst du angehen?
2. Was ist das entscheidende Ziel für dich dabei? Was soll die Aktion bringen?
3. Was ist dazu ganz konkret jetzt zu tun? Was kannst du realistisch in 30 Minuten, einer Stunde oder einem halben Tag erreichen?
4. Was musst du in deinem Verhalten ändern, damit die Aktion auch dauerhaft zu einer Verbesserung führt?
[…]
Ein paar Tage später hat Annette sich wieder bei mir gemeldet:
[…] Ganz lieben Dank. So eine lange und ausführliche Antwort hatte ich gar nicht erwartet. Stimmt natürlich: Ich habe immer zu viel erwartet, mir dann zu viel vorgenommen und habe wohl immer mit dem nächstbesten begonnen. Jetzt habe ich es tatsächlich mal mit der von dir beschriebenen Methode versucht und mit meinem Geschirr begonnen. Angeschlagene, alte, doppelte und hässliche Sachen raus. War ganz einfach, hat keine Stunde gedauert und ich freue mich jetzt jeden Tag, wenn ich eine Kaffeetasse oder einen Teller heraus nehme, wie übersichtlich alles geworden ist und wie viel Platz ich jetzt habe. Da sehe ich meinen kleinen Erfolg jeden Morgen vor dem Frühstück und jeden Abend nach dem Spülen beim Einräumen des Geschirrs! […]
Freu!